Alte Europäer statt neue
Ägypter
Billige Altkartoffeln als
teure „Frühkartoffeln“
angeboten
Von Achim Pollmeier und
Alexandra Stober Seit einigen Wochen liegen
sie wieder in den Regalen der Supermärkte:
Frühkartoffeln. Helle Knollen mit fester, dünner Schale,
die man nur waschen muss und dann mitessen kann. Die
ersten Kartoffeln der Ernte 2004 kommen stets aus
Ägypten, Israel oder Marokko und sind wegen der hohen
Transportkosten relativ teuer. So kosten sie ungefähr
dreimal so viel wie hiesige Kartoffeln aus dem
vergangenen Jahr.
Auch die Lebensmittel-Discounter Lidl und Norma
bieten die neuen Kartoffeln in manchen Märkten an - und
zwar zu einem besonders günstigen Preis. Bei Lidl
bekommt der Kunde 1,5 Kilogramm für
1,11 Euro; Norma verlangt 1,69 Euro für seinen
2,5-Kg-Beutel Frühkartoffeln. Doch weder
bei Lidl noch bei Norma sehen diese aus wie neue
Kartoffeln: Sie sind dunkel, haben eine dicke Schale und
sind übersäht mit Keimen. Ganz wie Kartoffeln aus dem
letzten Jahr. Die Kunden sind mit der Qualität
unzufrieden: „Frühkartoffeln sind knackig, die hier sind
etwas weich. Ich habe mir im Geschäft auch andere Beutel
angesehen und die Kartoffeln sind alle sehr dunkel. Nach
meiner Meinung sind das keine Frühkartoffeln“, so eine
Kundin vor einem Norma-Markt zu [plusminus.
Sollten also tatsächlich alte Kartoffeln als neue
Kartoffeln verkauft werden? Auffällig ist, dass die
schrumpligen Frühkartoffeln alle von einem Großhändler
in Koblenz abgepackt worden sind, der Josef Still GmbH.
Recherchen von [plusminus haben ergeben, dass der
Großhändler vor allem Lidl- und Norma-Zentralen in
Nordrhein-Westfalen beliefert. Wir machen uns auf den
Weg durch das Rheinland und Ruhrgebiet und kaufen die
vermeintlichen Frühkartoffeln in mehreren Filialen der
beiden Ketten. Stets stammen sie von der Josef Still
GmbH.
50 Tonnen pro Tag Für eine erste
Einschätzung bringen wir unsere Kartoffeln zu Karl-Heinz
Albersmeier, der sich mit alten und neuen Kartoffeln
bestens auskennt. Er ist selbst Kartoffelbauer und von
der Landwirtschaftskammer Rheinland als unabhängiger und
vereidigter Sachverständiger bestellt worden.
Albersmeier begutachtet unsere Kartoffeln intensiv,
schneidet mehrere in kleine Stücke, untersucht die
Schale und kommt schließlich zu dem Schluss: „In meinen
Augen sind das hier eindeutig alte Kartoffeln. Man sieht
hier sehr deutlich Druckstellen, die durch Lagerung
entstehen. Außerdem erkennt man alte Keimstellen, die
schon abgebrochen sind.“
Letzte Gewissheit kann jedoch nur eine Laboranalyse
geben. Dafür bringen wir unsere vermeintlichen
Frühkartoffeln in das Labor „Agroisolab“ nach Jülich.
Hier können die Lebensmittelchemiker durch eine
Isotopenanalyse bestimmen, aus welchem Land die
Kartoffeln stammen. Bei der Analyse werden der
Wasserstoff und der Sauerstoff im Wasser der Kartoffel
untersucht. Denn deren Beschaffenheit ist in jedem Land
der Erde verschieden.
Da es bei den Lebensmitteldiscountern zum Zeitpunkt
unseres Kaufs nur Frühkartoffeln aus Ägypten, Israel
oder Marokko gab, müssten auch unsere Kartoffeln aus
diesen Ländern stammen. Doch die Analyse im Agroisolab
ergibt etwas anderes. Markus Boner, Geschäftsführer des
Labors, fasst zusammen: „Bei den vorgelegten Kartoffeln
können wir sagen, dass diese mit hoher
Wahrscheinlichkeit nicht aus Ägypten, Israel oder
Marokko stammten. Sie haben aber Isotopenmuster, die
identisch sind mit Europa. Das lässt natürlich die
Schlussfolgerung zu, dass hier Altware vorliegt.“
Damit steht fest, dass die Kunden von Lidl und Norma
für den Preis von Frühkartoffeln Ware aus dem
vergangenen Jahr bekommen haben: Für jedes Kilo der
falschen Frühkartoffeln zahlt der Verbraucher rund
40 Cent zu viel. Insider der Branche schätzen, dass
die Josef Still GmbH am Tag mindestens 50 Tonnen
Kartoffeln verpackt. Das würde bedeuten, dass die
Verbraucher Tag für Tag um rund 20.000 Euro
betrogen wurden.
Angst vor Auftragsverlust Doch wer steckt
sich diese 20.000 Euro pro Tag in die Tasche?
Zunächst fahren wir nach Koblenz zum Großhändler. Wir
wollen wissen, wie die alten Kartoffeln in seine Netze
geraten sind. Vor der Kamera gibt uns die Josef Still
GmbH dazu keine Auskunft. Stattdessen bekommen wir Post
vom Rechtsanwalt: Die Josef Still GmbH weist alle
Vorwürfe der Falschetikettierung entschieden zurück.
Auch die beiden Discounter möchten sich vor der
Kamera nicht äußern. Norma antwortet per Fax und teilt
mit: „Nach den uns vorliegenden Erkenntnissen besteht
für uns kein Zweifel daran, ausschließlich
Speisefrühkartoffeln verkauft zu haben.“ Lidl schickt
uns einen ganzen Stapel Qualitätsgutachten - alle mit
dem Ergebnis, dass es bei den eigenen Kontrollen „keine
Beanstandungen“ gegeben habe.
Was die Kunden und unser Sachverständiger Karl-Heinz
Albersmeier sofort gesehen haben, wollen der Großhändler
und die Lebensmittel-Ketten nicht bemerkt haben? „Wenn
ein Einkäufer Kartoffeln in dieser Form im Netz sieht,
müsste er das eigentlich sehen und entsprechend
reagieren“, so die Einschätzung von Karl-Heinz
Albersmeier. Wir fragen uns deshalb, ob der Preis den
Discountern wichtiger ist als die Qualität der Ware.
Offen möchte darüber kein Kartoffel-Großhändler sprechen
- zu groß ist die Angst davor, Aufträge zu verlieren und
damit seine Existenz zu gefährden. Anonym schildert uns
ein Großhändler, wie die Lebensmittel-Discounter in
Verhandlungen vorgehen: „Beim Verkaufsgespräch spielt in
erster Linie der Preis eine Rolle, dann kommt die
Qualität. Dann heißt es, unsere Kartoffeln sind einfach
zu teuer, geht mit den Preisen runter. Wir kaufen die
Kartoffeln in Ägypten, Israel und Marokko zum teuren
Preis. Und wenn dann andere hingehen und kaufen die
Kartoffeln in unmittelbarer Nähe, dann ist ganz klar,
dass wir da nicht mithalten können.“
Ein Nepp also auf Kosten der ehrlichen Händler und
vor allem der Kunden. Der finanzielle Schaden lässt sich
insgesamt kaum beziffern. Doch etwas anderes wiegt
ohnehin viel schwerer: das enttäuschte Vertrauen der
Verbraucher.
WDR [plusminus Appellhofplatz
1 50667 Köln E-Mail: plusminus@wdr.de
Dieser Text gibt den Fernseh-Beitrag
vom 11.05.2004 wieder. Eventuelle spätere Veränderungen
des Sachverhaltes sind nicht
berücksichtigt. |